Nulltarif ist gut, eine komplette Verkehrswende ist besser...

Ein Gastbeitrag von Jörg Bergstedt, Landschaftsplaner und Autor

Eigentlich war schon überraschend, dass die Bundesregierung, dieser Freundeskreis der deutschen Automobilindustrie, den sogenannten Nulltarif, also die fahrscheinlose Nutzung von Bussen und Bahnen, ins Gespräch brachte. Noch bemerkenswerter schien, dass viele den Vorschlag aufgriffen und sich inzwischen etliche Städte und Kreise darum drängeln, als Teststadt ausgewählt zu werden, um endlich den Nulltarif bei sich einführen zu können. Doch genaueres Hinsehen zeigt: Das war keineswegs überraschend. Denn die Idee ist einfach gut. Und sie ist nicht so exotisch, wie manche das jahrelang dargestellt haben und immer noch darstellen. Eher ist Deutschland hier Nachzügler, ein Entwicklungsland in Sachen Verkehr. Etliche Städte Europas, vor allem in Frankreich, praktizieren das Erfolgsmodell, ebenso Melbourne, Seattle, Hawaii – und sogar eine europäische Hauptstadt, nämlich Tallinn (es soll dort demnächst sogar landesweit ausgedehnt werden). Hierzulande gab es nur zwei Versuche zum Nulltarif (in Templin und Lübben) – mit überwältigendem Erfolg. Es stiegen so viele Menschen auf Busse um, dass die Verkehrsbetriebe das nicht mehr bewältigen konnten. Da die Orte allein gelassen wurden, hielten sie das nicht durch. Das wäre jetzt anders. Und darum ist es der richtige Zeitpunkt, einzusteigen in die konkrete Planung. Fulda, Bad Hersfeld und umliegende Gemeinden: Werdet zu den Mitvorreitern der Idee – und bringt den Impuls in die Verkehrsverbände NVV und RMV ein! Denn klar ist, dass das Ganze am besten funktioniert, wenn es nicht nur Inseln sind, an deren Grenze plötzlich doch ein Ticket gelöst werden muss und die ganze, sauteure Infrastruktur von Fahrkartenautomaten, Werbung, Buchhaltung und Kontrolleur*innen aufrechterhalten wird, weil sich auch Menschen aus ferneren Orten nach Osthessen verirren.

 

Gießen Nulltarif
Spektakuläre Aktion Ende Januar 2018 in Gießen. Dieses professionell gemachte Flugblatt lud zur Nulltarifs-Testwoche ein. Es war eine Fälschung – aber die ganze Stadt und Medien bis ARD und ZDF diskutierten. Berichte auf de.indymedia.org/node/17618

 

Warum ist der Nulltarif so wichtig?


Die Idee einer Verkehrswende hat dann eine Chance, wenn die Menschen glauben, dass dadurch etwas besser wird – in der Stadt und auf dem Land. Der fahrscheinlose öffentliche Personenverkehr ist eine Idee, die kaum einen Menschen kalt lässt. Selbst notorische Autofahrer*innen werden sich überlegen, ob Kosten und Nutzen noch im Verhältnis stehen. Kommt ein zusätzlicher Zeitaufwand hinzu, weil die bisherigen Autostraßen zumindest teilweise zu Fahrradwegen umgewidmet und die innerstädtischen Parkplätze und –häuser zugunsten lebensfroher Freiflächen verschwunden sind, könnte ein Umstieg in großem Maßstab erfolgen. Das ist auch nötig, denn neben dem positiven Effekt für Mensch und Umwelt, vor allem dem Klimaschutz, wird die freiwerdende Fläche für Stadtgestaltung dringend benötigt. Die Stadt bekommt nicht nur wörtlich Luft, sondern auch Raum, um sich zu einem beliebten Aufenthaltsort zu entwickeln. Deshalb sind in den bestehenden Nulltarifstädten vor allem die, die in Innenstädten und Ortskernen aktiv sind (Handel, Kultur, Gastronomie usw.), Hauptbefürworter und wichtige Financiers des fahrscheinlosen Nahverkehrs.
Der Nulltarif ist also die Zugnummer für eine Verkehrswende, die aber darüber hinausgehen muss. Schließlich haben Verkehrsbetriebe und verbliebene Auto-Fans doppelt Recht mit der Behauptung, dass die Infrastruktur den Ansturm an Fahrgästen nicht aufnehmen kann: Einmal, weil sie damit selbst zugeben, dass ein Nulltarif zum Ziel führen würde, nämlich dass dann viele Menschen mit Bussen und Bahnen fahren. Zum anderen, weil es in der Tat darauf ankommt, das bisher autogerechte Land umzubauen. Tabus darf es dabei nicht geben. Wenn, was klar ist, die Straßenbahn das leistungsfähigste und nutzerfreundlichste Verkehrsmittel ist, dann sollten alle Städte einer gewissen Größe darüber nachdenken, mittelfristig ein darauf basierenden Verkehrssystem zu schaffen. Wo immer eine Straße oder ein Gebiet erneuert wird und die Wegeführung passt, sollte gleich ein Gleis verlegt werden. Das würde Geld und Baustellenstress sparen. Dass in vergangenen Jahren fast alles falsch gemacht oder zumindest verschlafen wurde, kann kein Argument sein. Die Verkehrspolitik der vergangenen Jahrzehnte war dumm. Aber sie deshalb weiterzuführen wäre so, also würde mensch weiter Atomkerne spalten, Kohle verfeuern oder Armeen in alle Welt senden, bloß weil die Jahre davor alles versemmelt wurde und es jetzt leider nicht anders geht. Leider wird, obwohl absurd, oft so argumentiert, aber damit nur alles verzögert, dadurch verschlimmert, aber nichts gerettet. Mit der Verkehrswende ist es wie mit der Energiewende: Je früher und beherzter sie angepackt wird, desto besser.

Nicht nur Nulltarif!


Nulltarif ist sehr wirkungsvoll – und zudem ein guter Aufhänger für mehr. Er klärt zudem die wichtige sozialpolitische Frage der gleichberechtigten Teilnahme aller Menschen am gesellschaftlichen Geschehen. Denn wer die Preise für Monatstickets mit den Mobilitätssätzen bei HartzIV vergleicht, erkennt schnell, dass bisher Teile der Bevölkerung vom öffentlichen Geschehen ausgesperrt blieben. Es braucht aber zudem viele den Nulltarif flankierende Maßnahmen: Fahrradstraßen, öffentliche Plätze und Fußgänger*innenzonen, bessere Zubringersysteme, Fahrrad-Bus/Bahn-Kombinationen, verdichteter Takt auch in die letzten Dörfer, Integration besonderer Verkehrszeiten zum Beispiel für Kinos, Einkaufszentren, Freizeiteinrichtungen und Sportstadien in die Fahrpläne und so weiter.

Überraschung: Finanzierung ist gar kein Problem


Als die Nulltarifsdebatte groß wurde, klagten die Verkehrsbetriebe über 12 Milliarden Euro, die das kosten würde. Klingt viel. Ist aber schnell bezahlt: Die Pendlerpauschale beträgt über 5 Milliarden – und könnte dann weitgehend wegfallen. Dieselsubventionen erreichen über 7 Milliarden. Damit reicht‘s schon. Dabei sind noch viele Einsparungen gar nicht genannt, zum Beispiel die für Strafverfolgung von Menschen ohne Ticket, die so zahlreich sind, dass selbst der Richterbund die Abschaffung dieses Strafparagraphen fordert. Ticketautomaten, Kontrolleur*innen, Werbung für Ticketkauf – alles überflüssig. Kein*e Busfahrer*in muss an jeder Haltestelle eine Minute Fahrkarten kontrollieren. Welch ein Gewinn – und endlich Platz und Luft in der Stadt. Worauf also noch warten?


Infos: www.verkehrswende.tk

in36.de

 

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