Werteverfall ist ein Zeigefingerbegriff, der in sicheren Abständen via Massenmedien die Gesellschaft erreicht, in der er vorliegen soll. Auch der Wertewandel, als nicht vordergründig mahnende
Benennung, taucht immer wieder auf. Ein Prozess, nicht direkt zum Greifen, aber feststell- oder zumindest fühlbar wird damit bezeichnet.
Dass solche gesellschaftlichen Zustände nicht direkt messbar sind, liegt daran, dass Werte als „Konzeptionen des Wünschenswerten“ verstanden werden können. So beschrieb Clyde Kluckhohn, ein
US-amerikanischer Ethno- und Soziologe, sie Anfang der 1950er Jahre.
Die Definition war damit – wie üblich in den Sozialwissenschaften - nicht abgeschlossen. Der Soziologe und Verwaltungswissenschaftler Helmut Klages beschreibt Werte als innere Führungsgrößen, die
das menschliche Tun und Lassen leiten. Wer sie besitzt, nutzt Werte „normalerweise als verbindliche Wegweiser zum richtigen Denken, Verhalten und Leben – oder auch schlicht als Inbegriff des
selbstverständlicherweise Richtigen“.
Auch wenn Werte gebildet werden, um zu zeigen, was Individuen, Gruppen und Gesellschaften für wünschbar erachten, werden sie nicht als persönliche Eigenschaften, sondern vielmehr als Ziele und
Bewertungskriterien verstanden, die dauerhafter angelegt sind. Sie dienen als Standards, um Handlungen und Meinungen von anderen Menschen oder sich selbst zu legitimieren oder zu
verurteilen.
Die bzw. der Einzelne erlangt Werteorientierungen durch Erziehung, Erfahrung und soziale Kontakte. Werte existieren zudem unabhängig von einem Subjekt „als gesellschaftlich-kulturelle Normen und
tragen durch ihre relativ hohe Verbindlichkeit für die verschiedenen Teile der Gesellschaft sowohl zur sozialen Integration des Individuums in die Gesellschaft als auch zur Integration
gesellschaftlicher Teilbereiche in die Gesamtgesellschaft und somit zur Systemstabilität bei“, erklärt Martina Gille vom Deutschen Jungendinstituts e.V. (DJI).
Das Vermitteln, Abwägen, Ablehnen, Annehmen und das bewusste sowie unbewusste Verinnerlichen von Werten gehört zum Lernprozess der Sozialisation. Werte sind mit Normen und Rollen stark verbunden
und werden über Instanzen der Sozialisation, also wie die der Familie, Schule, Peer-Group und den Medien vermittelt.
Gesellschaftliche Umbrüche, Veränderungen oder bestimmte Ereignisse können zu Verschiebungen und Wandlungen von Wertevorstellungen führen.
Ein Gesamtphänomen
Die empirische Sozialforschung entdeckte in der ersten Hälfte der 1960er Jahre einen beginnenden Wertewandlungsschub, den Helmut Klages als „ein in sich zusammenhängendes und als Ganzheit
verstehbares Gesamtphänomen“ bezeichnet. Dieser Trend, der in den hoch entwickelten Indus-trieländern umgriff, etablierte sich unter dem besagten Begriff ‚Wertewandel‘. Immer dann wird von ihm
gesprochen, wenn sich in einer Gesellschaft die Werteorientierungen ihrer Mitglieder bedeutsam verändern, einzelne Werte also einen Bedeutungsgewinn oder -verlust erfahren.
Die Individualisierung moderner Gesellschaften wurde vielfach als Ursache für den verstärkten Übergang von materialistischen zu den sogenannten postmaterialistischen Werten ausgemacht.
Bis in die 1990er Jahre äußerte sich eine Abweichung zwischen den pflichtorientierten Werten der älteren Generation und den auf Selbstentfaltung ausgerichteten Werten der jüngeren Generation.
Dieser Konflikt hat sich zwischen den Generationen aufgelöst und zu einer Auseinandersetzung in modernen westlichen Gesellschaften gewandelt.
Auf der einen Seite stehen Menschen, die Selbstentfaltung und Lebensqualität fordern; auf der anderen Seite sind jene, deren Forderungen ökonomisches Wachstum betreffen.
Wertesynthese
Nach Schüben des Wertewandels von materialistischen hin zu postmaterialistischen Werten in den 1960er bis in die 1980er Jahre hinein, kam es zu einer Abschwächung gesellschaftlicher
Wertekonflikte. Mit dem Konzept der ‚Wertesynthese‘ beschreibt der Werteforscher Klages „die vorherrschende Koexistenz der Pflicht- und Akzeptanzwerte und der Selbstentfaltungswerte“ als „ein
weitverbreitetes Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen diesen beiden Wertebereichen“. Klages räumt zwar ein, dass die Dimension der Selbstentfaltungswerte, worunter zum Beispiel Eigenständigkeit,
Kreativität und Spontanität fallen, in der Bevölkerung zunimmt, während die Dimension der Pflicht- und Akzeptanzwerte, wie Disziplin, Gehorsam und Unterordnung, abnimmt. Die beiden Wertegruppen
können jedoch auch unterschiedlich kombiniert sein. Die Vereinbarkeit von gegensätzlich erscheinenden Werten ergibt für Klages eine Wertesynthese, die es den TrägerInnen ermöglicht, sich
produktiv und „‚sozial-verträglich‘ auf die Anforderungen der gesellschaftlichen Modernisierung und Bürgergesellschaft einzulassen“, wenn die positiven Anteile von Pflicht- und Akzeptanzwerten
sowie Selbstentfaltungswerten zusammengefügt und die neutralen und negativen Anteile der Bereiche ausgeklammert werden.
Wertestudie 2013
Der Wandel der Werte zeigt somit einen sozialen Wandel an. Das Change Centre, eine unabhängige und gemeinnützige Wissenschaftsstiftung, die selbst oder kooperierend Forschungs- und
Publikationsprojekte zu Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft realisiert, hat ihre zweite nicht-kommerziell angelegte Wertestudie vorgelegt. Dabei handelt es sich um eine Befragung unter
1.061 VolksvertreterInnen aus Kommunalparlamenten, Landtagen und Bundestag zum Thema „Werte und Wertewandel“ im Vergleich zu Daten einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage.
Die im rheinländischen Meerbusch ansässige Stiftung ermittelte zunächst die Wertvorstellungen von Bürgerinnen und Bürgern. Diese wurden nach Werten gefragt, die ihnen persönlich am Herzen liegen.
Damit wurde die Weite des Wertebegriffs von den Befragten selbst beeinflusst. „Sekundärtugenden“ wie Pünktlichkeit und Höflichkeit rückten dadurch ebenfalls in den Fokus der Studie. Die
VolksvertreterInnen wurden darauffolgend um ihre Einschätzung gebeten, welche Werte für unsere Gesellschaft besonders wichtig sind und wie sich diese Werte zukünftig verändern werden.
„Die Schere zwischen Bürgern und Mandatsträgern geht auseinander. Der Werte-Abstand zwischen Bürgern und ihren Vertretern ist je nach Partei unterschiedlich groß – besonders deutlich bei der
Linken und der SPD“, erklärten die Forscher nach Abschluss.
Die geringste Diskrepanz in den Werten findet sich zwischen FDP-Abgeordneten und ihren WählerInnen und nicht mehr wie in 2011, bei der ersten Wertestudie des Change Centers, bei CDU/CSU.
Zentrale Ergebnisse
In den vergangenen fünf Jahren sind Werte unwichtiger geworden, darüber sind sich
Bürgerinnen, Bürger und Abgeordnete sicher, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau: Die Bedeutung von Werten hat in den letzten Jahren abgenommen. Mehr als die Hälfte der Bürger (55 Prozent)
geben dies an
und immerhin 39 Prozent der MandatsträgerInnen. Nur 15 Prozent der BürgerInnen sehen eine gestiegene Bedeutung der Werte – allerdings weichen die WählerInnen der Grünen davon ab: Hier sehen 28
Prozent eine Zunahme der Bedeutung von Werten.
„Die Bevölkerung hängt das Thema Werte einfach deutlich tiefer als ihre Vertreter“, fasst der Zuständige der Wertestudie, Prof. Joachim Klewes, zusammen.
Auch wenn die Wichtigkeit der Werte insgesamt abnimmt, ist es dennoch interessant zu erfahren, welche Werte im Volke und denen, die es vertreten, oben auf der Skala angesiedelt sind.
2011 waren sich beide Gruppe darüber einig, dass Ehrlichkeit ein hoher Wert ist. Offen nachgefragt, hat sich bei den BürgerInnen dieser Wert nicht verändert. Die Abgeordneten hingegen nannten
spontan Solidarität, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit.
Die Forscher vermuten, dass Ehrlichkeit bei beiden Gruppen insgesamt seltener genannt wurde als 2011, da in diesem Jahr die Plagiatsaffäre um Karl-Theodor zu Guttenberg Einfluß auf die Antwort
nahm.
Die gestiegene Präsenz hingegen des Solidaritätsbegriffs bei den Abgeordneten könnte mit der Euro-Krise und den dazugehörigen Debatten zusammenhängen.
Während bei den Abgeordneten Gerechtigkeit (63 Prozent), Toleranz (55 Prozent), Freiheit (53 Prozent) und Solidarität (51 Prozent) die ersten Plätze annehmen, zeigt sich die Präferenz in der
Bevölkerung weniger deutlich. Kein Wert erreicht die 50 Prozent-Schwelle. Respekt (44 Prozent), Gerechtigkeit (43 Prozent) und Ehrlichkeit (41 Prozent) landen auf den Plätzen 1 bis 3, dicht
gefolgt von Familie (39 Prozent), Freiheit (36 Prozent), Zuverlässigkeit (33 Prozent) und Toleranz (31 Prozent).
„Bei den Bürgern wirken die Werte-Präferenzen ausgeglichener als bei den Politikern: Nicht einzelne Werte, sondern ein ganzer Kanon ist wichtig. Ausreißer nach oben gibt es nicht. Ausreißer nach
unten schon: Nur bei 29 Prozent der Grünen-Wähler schafft es der Wert ‚Familie’ in die Werte Top-Fünf“, fasst Prof. Klewes das Teilergebnis zusammen.
Vor Ort
Der Trend der Wertestudie zeigt, dass in der Bevölkerung Werte zwar nicht als Rand-
notizen bezeichnet werden können, aber die Bildung und Vermittlung von Werten die Gemüter zumindest bewusst nicht allzu
sehr antreibt.
Nichtsdestotrotz nimmt sich die regelmäßige Themenreihe im Fuldaer Umweltzentrum das weite Thema „Werte“ am Montag, den 13. Oktober, ab 19 Uhr vor (siehe Kasten unten). Stefanie
Schadt
In der Mitte des Raumes sitzen auf vier zueinander gerichtet platzierten Stühlen drei Menschen. Ein Stuhl bleibt zunächst
leer. Um diese herum sind weitere Stühle kreisförmig angeordnet. Die Menschen, die darauf sitzen, folgen der Diskussionen, die im inneren Kreis stattfindet. Möchte jemand mitdiskutieren, kann er
oder sie sich auf den unbesetzten Stuhl setzen. Eine Diskussionsbeteiligung bleibt dem inneren Kreis vorbehalten. Sind alle Plätze dort besetzt, kann sich eine redewillige Person von außen auch
hinter eine beliebige innen sitzende stellen. Diese darf noch einen möglicherweise begonnen Satz beenden, macht dann aber Platz und setzt sich in den äußeren, schweigenden Kreis.
Diese Diskussionsmethode nennt sich „Fishbowl“ und wird seit einigen Monaten bei einer Veranstaltungsreihe im Umweltzentrum
Fulda praktiziert. Diskutiert werden auf diese Weise verschiedene umwelt- und gesellschaftspolitische Themen. Vor dem „Fishbowl“ gibt es einen kurzen Impulsvortrag, der die anschließende
Diskussion anregen soll.
Die Veranstaltungsreihe, findet jeweils am zweiten Montag im Monat ab 19 Uhr statt. Gäste sind willkommen und ebenso
eingeladen, sich auf beschriebene Weise in die Diskussion einzubringen.
Thema der Veranstaltung am 13. Oktober ist „Werte“. Den Impulsvortrag hält die Politikwissenschaftlerin Stefanie Schadt. Am
10. November geht es um „Einflüsse“.