Was Kinder brauchen

Am 8. Dezember 2012 startete im Fuldaer Bonifatiushaus eine neue Reihe, die eine Schnittmenge zwischen Eltern- und beruflicher Weiterbildung anbietet. „Was Kleinkinder brauchen“ so der Titel, der Eltern, Interessierte und Leute aus betreffenden Berufen ansprechen soll. Einstieg bildete die Beschäftigung mit drei verschiedenen Blickwinkeln auf die Möglichkeiten sowie Fähigkeiten der kindlichen Entwicklung.
Der Bildungsberater Ulrich Dreismickenbecker aus Speyer, Organisator und Moderator des Seminartages, stellte bei der Begrüßung fest, dass der Veranstaltungstitel somit auch „Was Eltern brauchen“ hätte heißen können.
Was eine gelungene Entwicklung von Kindern unterstützt, wurde von drei Referenten aufgearbeitet. Insbesondere wissenschaftliche Einsichten aus der Hirnforschung standen dabei im Fokus.

Der erste Referent, PD Dr. Jörg Bock vom Otto von Guericke Institut, Universität Magdeburg, vermittelte Forschungserkenntnisse aus der Neurobiologie. Zentral war dabei, dass Gehirn als Netzwerk zu begreifen und somit dessen Verbindungen der einzelnen Teile.
Synapsen, also die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, bilden sich in den ersten Lebensjahren rasant aus. Vereinfacht ausgedrückt, bedeutet das, wenn ein Kind positive kindliche Erfahrungen sammelt beziehungsweise Lernprozesse durchläuft, die auf Neugier, Freude und Spaß basieren, wirkt sich das auf die Synapsenverstärkung aus. Im Umkehrschluss heißt das - so die Vermutung, da Experimente nur an Tieren und nicht am Menschen möglich sind - kommt es zu negativen Einwirkungen, wie dauerhaften Stress, hat zumindest das Tierexperiment ergeben, dass damit einer fehlerhaften Entwicklung der Weg geebnet wird. Das bedeutet nun aber nicht, dass Kinder ab dem zweiten Lebensjahr unbedingt Englisch und vorzugweise vor Eintritt in die Grundschule Chinesisch lernen sollten. Vielmehr sind positive Lernerfahrungen zu unterstützen, da sich derart angeeignetes Wissen verfestigt.

Der zweite Referent, der Entwicklungspsychologe Prof. Ludger van Gisteren, verdeutlichte die Verquickung zwischen positiven Beziehungserfahrungen als Bestandteil von Lernprozessen und der kindlichen Entwicklung. In seinem Vortrag „Psychoanalyse und Hirnforschung“ wurde er nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Kleinkinder 24 Stunden am Tag lernen, also auch im Schlaf.
Die Spiegelungen, die ein Kind erfährt, sind somit fundamental. Zur Verdeutlichung brachte van Gisteren das Beispiel eines freudig erregten Kindes, das mit dieser Emotion auf sein depressives Elternteil stößt. Hier wird die Emotion, also die Freude nicht erwidert oder zumindest nicht authentisch gespiegelt, so dass das Kind lernt, dass dieses Gefühl nicht angebracht sei.

Der dritte Referent, Herbert Renz-Polster, zog augenscheinlich die Teilnehmenden am Ende eines informativen und langen Seminartages in seinen Bann. Fast 90 Minuten hielt er einen freien Vortrag, der sehr anschaulich, auch unterhaltsam und vor allem erhellend seine evolutionsbiologische Perspektive für die kindliche Entwicklung herausarbeitete.
Der Kinderarzt und Autor veranschaulichte beispielsweise am leidigen Streitthema, ob und wie lange das Kind im elterlichen Bett schlafen darf, dass vieles, was abhängig von Kultur und Zeitgeist unterschiedlich beantwortet wird, aus Sicht der menschlichen Evolution gar nicht diskutiert zu werden bräuchte. So entführte er die Anwesenden ein paar Jahrtausende zurück, um zu verdeutlichen, dass Fragen der Gegenwart nicht gegenwärtig beantwortet gehören, sondern der Blick in die Vergangenheit ausreichend erklärt.
Renz-Polster erzählte von der Dunkelheit, in der sich unsere Vorfahren allenfalls durch den Schein eines Feuers ab abends befanden. Er sprach von all den Geräuschen, die die Menschen umgaben, und die wir vielleicht „vom Campen an der Adria“ selbst kennen. Doch diese Geräusche und auch „aufblinkende Äuglein im Dickicht“ erfuhren die nomadenhaften Menschen nicht in der Umzäunung eines Zeltplatzes, sondern ganz und gar ungeschützt. Folglich war selbstverständlich, dass die Kinder nicht irgendwo allein und ungesichert schliefen, sondern im unmittelbaren Schutz der Eltern, denn sonst hätten die kleinen Nachkommen nicht lange überlebt.
Derlei Erfahrungen, die das menschliche Dasein lange Zeit prägten und erst mit Einsetzen der Industrialisierung abebbten, sitzen als Information tief im Menschen, somit auch im Kind. So sollte es nicht wundern, dass Babys und Kinder bei den Eltern schlafen wollen, denn sie haben nicht das Bewusstsein, dass ihnen in der hübschen 4-Zimmer-Wohung mitten in Fulda im Dunklen nichts Lebensbedrohliches passieren kann.
Ebenfalls einleuchtend erläuterte Renz-Polster die sogenannte Trotzphase, die etwa ab dem zweiten Lebensjahr eintritt. Die machen kleine Menschen nicht durch, um sich als Tyrannen zu üben, sondern um Selbsttätigkeit und -wirksamkeit zu erlernen. Unsere Ur-Mütter stillten nämlich ihre Kinder durchschnittlich um den 30. Monat herum ab, da sich alsbald der nächste Nachwuchs ankündigte. Mit dem neuen Säugling war der Mutter nicht mehr möglich, dass Kleinkind überall mitzutragen. Quengelt ein Kind, obwohl es laufen kann, weil es auf den Arm will, ist dies auch als Überbleibsel einer lebenserhaltenden Maßnahme unserer Vorfahren zu verstehen.
Ein Kind der Frühzeit musste, wenn die Mutter beispielsweise beim Essensammeln war, beim Rest der Gruppe, wie den Geschwistern bleiben. Um sich im Gruppengefüge positionieren zu können, sammelt das Kind selbsttätige Erfahrungen und greift dafür auch zu den berüchtigten Wutanfällen. Damit sichert es sich sowohl das Überleben in der Kindergruppe als auch ausreichend Aufmerksamkeit der Mutter, die mit einem kleineren Geschwisterchen beschäftigt ist. Das Verständnis der Trotzphase als evolutionäres Überlebensprogramm kann Eltern der Gegenwart somit helfen, gelassener mit dem Nachwuchs umzugehen.

Stefanie Schadt

in36.de

 

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